Es wird immer schwieriger, Entscheidungen zu fällen

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Ausgangslage

Frau M. 91 ist Jahre alt und Mutter von fünf erwachsenen Kindern. Sie lebt allein in einem grossen Haus in einer ländlichen Umgebung. Die letzten fünfzehn Jahre war sie selbständig und unabhängig. Immer häufiger zeigt sich allerdings, dass Frau M. nun auf Unterstützung angewiesen ist.

Eskalation: Leichte Demenz

Frau M. will niemandem zur Last fallen und versucht, im Haushalt möglichst alles selbst zu erledigen. Die leichte Demenz erschwert ihr jedoch das Fällen von alltäglichen Entscheidungen. Der Haushalt ist zunehmend vernachlässigt. Der Geruch von verdorbenen Nahrungsmitteln im Kühlschrank verbreitet sich manchmal in der ganzen Wohnung. Die Kinder realisieren immer mehr, dass ihre Mutter Unterstützung benötigt.

Interventionen: Nachbarschaftshilfe

Frau M. organisiert sich selbst und arrangiert sich mit einer Nachbarin. Wenn die Nachbarin am Morgen mit dem Hund spazieren geht, kontrolliert sie jeweils, ob der Briefkasten geleert ist. Sonst schaut sie nach Frau M. und unterstützt sie. Dies funktioniert in einer ersten Phase. Mit der Zeit wird es zu viel für die Nachbarin. Weitere Nachbarn und Bekannte bauen daraufhin ein kleines Netzwerk auf. Die Nachbarschafts-Hilfe als soziale Ressource funktioniert. Auf diese Art kann ein verlässliches Unterstützungsangebot aufgebaut und etabliert werden.

Eskalation: Stürze

Die Situation von Frau M. verschlechtert sich. Ihr Gleichgewicht gerät aus dem Lot und Frau M. fällt mehrfach hin. Einmal ist ein Handwerker im Haus. Sie möchte ihm einen Kaffee zubereiten, stolpert über eines der Kabel am Boden und stürzt erneut. Sie bricht sich den Arm und muss ins Spital.

Wieder zu Hause würde sie Unterstützung durch die Spitex benötigen. Sie verweigert jedoch diese ärztlich verordnete Unterstützung nach dem Spitalaufenthalt. Erst ihr langjähriger Hausarzt kann sie mit der deutlichen Aufforderung überzeugen:
«Martina, jetzt brauchst Du aber wirklich die Spitex!»

Trotzdem gestaltet sich im Alltag zu Hause das Annehmen der Spitex schwierig. Frau M. will die Helfenden nicht ins Haus lassen. Was bisher so gut funktioniert hat, die Vertrautheit zu den Personen, welche Unterstützung leisten, wird nun zum Stolperstein. Es stellt sich heraus, dass Frau M. sich vor der Spitex schämt. Sie kennt die Angestellten alle gut und möchte nicht, dass sie ihre «Hilflosigkeit» sehen. Das gebe dann sicher viel Gerede im Dorf. Schliesslich wird mit Hilfe des Hausarztes eine Lösung gefunden: Er organisiert eine Spitex von ausserhalb, so dass Frau M. sicher sein kann, dass im Dorf kein Gerede über ihre «Hilfsbedürftigkeit» entsteht.

Interventionen: Betreuung durch Angehörige

Frau M. erholt sich wieder gut. Die Familie übernimmt Betreuungsaufgaben, organisiert sich und teilt die zu erledigenden Aufgaben auf. Die Zuständigkeiten für finanzielle Belange (Bankgeschäfte), handwerkliche Aufgaben im Haus, Administratives und Gesundheitsthemen werden je nach beruflicher oder fachlicher Affinität und den bestmöglichen Ressourcen der Angehörigen aufgeteilt. Somit übernimmt jedes einzelne Mitglied der Familie eine Rolle im Unterstützungs-System. Die Nachbarn und Nachbarinnen helfen weiterhin vor allem mit Beobachtungen (ist Frau M. aufgestanden?) oder besuchen sie öfter, um nach ihr zu sehen. Auch der Pfarrer besucht sie nun regelmässig.

Eskalation: Gesundheitliche Verschlechterung

Nach ca. einem Jahr gibt es klare Hinweise, dass die bisherigen Interventionen nicht mehr ausreichen. Das gemeinsam aufgebaute Hilfe-System genügt nicht mehr. Frau M. wird fragiler und der Aufwand ist zu hoch für die bisherige Form der Unterstützung geworden. Allen Beteiligten ist klar: So kann es nicht weitergehen. Gleichzeitig möchte Frau M. in ihrem Haus und im Dorf bleiben. Ihre Kinder leben alle weit weg.

Interventionen: Vollzeitbetreuung zu Hause

Es stellt sich die Frage, was zu tun ist. Die Familie kommt zum Schluss, dass es zwei Möglichkeiten gibt. Entweder zieht Frau M. ins Heim im Dorf oder es braucht eine 24-Stunden Betreuung bei ihr zu Hause. Durch eine Person im Umfeld der Familie gelingt es, ein Tandem von Fachpersonen aus dem Bereich der Care-Migration für die Betreuung zu gewinnen.

Zu Beginn fällt es Frau M. schwer, diese neuen betreuenden Mitbewohnerinnen zu akzeptieren. Sie ist mit der neuen Situation überfordert. Das äussert sich in Widerstand und Abwehr. Sie lässt sich nicht beim Duschen helfen und beschimpft die Betreuerinnen. Die Wäsche versteckt sie, weil sie nicht entscheiden kann, was gewaschen werden sollte. Leichter fällt es ihr mit Betreuerinnen, die klar auftreten und ihr Entscheidungen abnehmen.

Eskalation: Weitere gesundheitliche Verschlechterung

Im letzten halben Jahr ist die alte Dame zunehmend unruhig und hat Schlafstörungen. Die Anforderungen an die Betreuung und an die Pflege werden höher.

Interventionen: Ausbau des Pflege- und Betreuungsnetzes

Eine weitere Betreuerin der Care-Migration unterstützt nun, die Spitex kommt häufiger. In der Nacht entlastet zudem ein lokaler Verein von Freiwilligen. Der Verein ist auf Nachteinsätze spezialisiert. Frau M. ist nach dem ersten «Nachtbesuch» des Freiwilligen nun sehr zufrieden. Sie hat in der Nacht Gesellschaft und die Betreuerinnen haben tagsüber «bessere Nerven», weil sie ausgeschlafen in den Tag starten.

Intervention: Heim, Sterbebegleitung

Der Gesundheitszustand von Frau M. verschlechtert sich. Die Betreuerinnen möchten die allerletzte Zeit nicht mittragen. Insbesondere, weil sie noch nie eine Sterbende begleitet haben und sich davor scheuen. Die Kinder von Frau M. können nur punktuell anwesend sein.

Die letzten zwei Wochen verbringt Frau M. deshalb im Heim. Ihr wird bewusst ein Zimmer angeboten, in welchem sie die gleiche Aussicht hat wie in ihrem eigenen Haus: Sie sieht auf den Piz Balugn, an dessen Fuss sie geboren wurde und aufgewachsen ist. Diese Aussicht hilft ihr. Eine freiwillige Sterbebegleiterin wird vom Heim einbezogen, da Frau M. immer wieder äussert, sie wisse nicht, wie sie sterben könne. Die beiden finden im Piz Balugn ein Bild, das diesen letzten Prozess unterstützt. Frau M. stellt sich vor, beim Sterben zu ihrem Ursprung zurückzukehren, den Berg zu erklimmen und von dort in den Himmel zu gelangen.

Kommentare und Handlungsoptionen

Lehrreicher Moment: Deutliche Aufforderung durch die Ärztin oder den Arzt des Vertrauens

Vertrauenspersonen oder Respektpersonen für die Betroffenen können die Begleitung durch die Angehörigen in Schlüsselmomenten massgeblich beeinflussen. Das kann zusätzlich zur Ärztin oder dem Arzt des Vertrauens z.B. ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sein.

Dabei spielt die Art der Kommunikation eine wichtige Rolle. Ein Gespräch über Unterstützungsmöglichkeiten kann Schamgefühle ebenso wie ihre Verdeck- und Abwehrvorgänge auslösen.

Die Gesprächsführung hängt stark von den kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen und der Beziehung zu ihnen ab. Die Annahme von Hilfe ist ein Prozess, der seine Zeit braucht. Dabei können verschiedene Gesprächsstrategien zum Zuge kommen: Von der Psychoedukation zu einer mehr motivierenden Gesprächsführung bis hin zu einer direktiven Vorgabe von Entscheidungen.

Damit eine klare Aufforderung nicht übergriffig wird, muss sie im Team und mit den Angehörigen abgesprochen sein.

Hilfreich ist es, wenn die Betroffenen ihre Vorstellungen möglichst frühzeitig in einer Patienten- oder Vorsorgeverfügung festhalten. Daran können sich Angehörige und Betreuende orientieren.

Weiterführende Hinweise:

Hilfreicher Gesprächsleitfaden für alle Fach- und Vertrauenspersonen: Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2019): Kommunikation im medizinischen Alltag. Ein Leitfaden für die Praxis. DOI: doi.org/10.5281/zenodo.3576261

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Lehrreicher Moment: Soziale Scham und Angst vor Klatsch ernst nehmen

Vielen Menschen fällt es schwer, Unterstützung von (nahen) Bekannten anzunehmen. Das kann im Zusammenhang mit Scham stehen.

Scham wird ausgelöst, wenn Idealvorstellungen (personale Scham) oder Moralvorschriften oder Normen (soziale Scham) verletzt werden. Soziale Schamgefühle entstehen, wenn das Selbstbild von kulturellen oder familiären Normen geprägt ist und diese Normen für die alltäglichen Erfordernisse dysfunktional (hinderlich) sind. Das Schamgefühl kann den Körper, die Person und den Status betreffen. Es ist ein wesentlicher Faktor des Widerstandes gegen das Annehmen von Hilfe und Unterstützung.

Im Fallbeispiel wird die soziale Scham umgangen, indem „fremde“ Fachpersonen eingesetzt werden.

Zum konstruktiven Umgang mit der Scham:

  • Zielführend ist das Annehmen der Scham, um die Probleme bearbeiten zu können, auf die die Scham hinweist.
  • Es ist nicht zielführend, ein Schamgefühl ausreden zu wollen.
  • Der taktvolle Umgang und die eigene Schamtoleranz der Vertrauenspersonen erleichtern den Umgang mit Scham.
  • Die Akzeptanz von Scham soll unauffällig, wie selbstverständlich geschehen.

Das Gefühl der Scham muss angenommen werden können, um den Verarbeitungsprozess vorantreiben zu können. Es ist ein Hin und Her zwischen Akzeptanz und Abwehr, was Zeit und Distanz braucht.

Weiterführende Hinweise:

Hell, Daniel (2018): Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen. Giessen: Psychosozial-Verlag

Begleitdokumentation: Wie wir die Annahme von Unterstützung fördern können und welche Rolle «Scham» dabei spielt.

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Lehrreicher Moment: Aggressives Verhalten als Ausdruck der Überforderung und von Entscheidungsschwierigkeiten bei Demenz

Aggressive Verhaltensweisen und Entscheidungsschwierigkeiten können medizinische Gründe haben wie z.B. Demenz. Dann ist eine ärztliche Diagnose wichtig und hat Bedeutung für den Umgang bzw. für die Betreuung und Unterstützung der älteren Person.

Betreuende und Vertrauenspersonen spielen eine wichtige Rolle, damit die medizinischen Abklärungen eingeleitet werden

Weiterführende Hinweise:

Links für Information und Sensibilisierung zu Demenzsymptomen:

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Lehrreicher Moment: Zu Beginn und ganz am Schluss der Verläufe zunehmender Fragilität sind Einsätze von Freiwilligen besonders angebracht

Für betreuende Angehörige verläuft der Einstieg in Betreuungsaufgaben in verschiedenen Phasen. Betreuende Angehörige wünschen sich vor allem in solchen kritischen Lebenssituationen Orientierung und tatkräftige Unterstützung.

Freiwillige können insbesondere zu Beginn eine wichtige Rolle im Unterstützungssystem spielen; bei zunehmender Unterstützungsbedürftigkeit können sie betreuende Angehörige ergänzen und entlasten. Ihre Aufgaben verändern sich im Verlauf, so dass oft ein Wechsel zu Freiwilligen erfolgt. Dabei kann es sich um informelle Unterstützung oder um spezifisch geschulte Freiwillige handeln. In der palliativen Phase können geschulte Freiwillige wichtige Aufgaben übernehmen.

Fach- und Vertrauenspersonen sollten insbesondere am Anfang und bei fortgeschrittener Fragilität den Kontakt zu Organisationen suchen, die Freiwillige vermitteln können. Dies schliesst religiöse Institutionen wie z.B. die Kirche mit ein. Fachpersonen können Gemeinden zudem motivieren, entsprechende Freiwilligen-Netzwerke aufzubauen.

Weiterführende Hinweise:

Bundesamt für Gesundheit: Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017-2020»: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitspolitik/foerderprogramme-der-fachkraefteinitiative-plus/foerderprogramme-entlastung-angehoerige.html

Faktenblatt zum Synthesebericht des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/nat-gesundheitspolitik/foerderprogramme/fp_pflegende_angehoerige/faktenblatt-synthesebericht-angehoerige.pdf.download.pdf/de_BAG_Faktenblatt_Synthesebericht_def_web.pdf

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Lehrreicher Moment: Die fachliche Begleitung und Supervision für privat angestellte Betreuende müssen sichergestellt sein

Wer privat Betreuende einsetzt, bei sogenannter Live-in Betreuung, sollte die fachliche Begleitung und Supervision der Betreuenden sicherstellen. Es gibt viele private Anbietende für Live-in Betreuung und verschiedene Ratgeber sowie kritische Diskussionen zum Thema.

Wichtig ist zudem eine Zusammenarbeit mit anderen involvierten Fachpersonen wie der Spitex, z.B. im Rahmen von Runden Tischen.

Weiterführende Hinweise:

https://www.caritascare.ch/de/betreuung-zuhause.html

https://www.betreuungs-spezialist.ch/das-faircare-tandem-modell/

https://www.betreuungs-spezialist.ch/das-faircare-tandem-modell/

https://www.knoten-maschen.ch/problematische-24-stunden-betreuung-zu-hause/

https://www.curaviva.ch/Fachwissen/Interprofessionelle-Zusammenarbeit/Fachpersonen/PI9NL/

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Lehrreicher Moment: Würdige Palliativpflege und Sterbebegleitung erfordern eine Spezialisierung der Betreuenden

Die Palliativpflege ist ein professionelles Angebot (das auf Abteilungen der Palliativmedizin, in Hospizen oder in Pflegeheimen zugänglich ist). Patient_innen haben die Möglichkeit vom Spital zurück ins Pflegeheim oder in spezialisierte Hospize zu wechseln.

Sterbebegleitung kann durch Freiwillige erfolgen und ist eine gute Unterstützung für die Angehörigen.

Weiterführende Hinweise:

https://www.palliative.ch/de/sitemap

https://www.srk-bern.ch/de/sich-engagieren/in-ihrer-region/fuer-aeltere-menschen/palliative-care

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