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Kritisches Lebensereignis Flucht

Frau A. ist Ende fünfzig, stammt aus dem Irak und ist vor 12 Jahren in die Schweiz geflüchtet. Sie ist Muslimin und lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in einer Vorortsgemeinde. Frau A. erwähnt den Status der F-Bewilligung (vorläufige Aufnahme) als Erschwernis für die Integration in der Schweiz.

Eskalation: Gesundheitsprobleme und administrative Schwierigkeiten

Frau A. wurde in ihrem Herkunftsland am Rücken operiert und nach der Ankunft in der Schweiz steht eine Nachkontrolle an. Zu diesem Zeitpunkt lebt sie mit ihrer Familie in einem Zentrum für Asylsuchende in der Nähe von Bern. Die Arztsuche für die Nachkontrolle gestaltet sich schwierig, weil sie sich im schweizerischen Gesundheitswesen nicht auskennt. Eine in der Nachbarschaft wohnende Frau macht der Familie und insbesondere Frau A. das Leben schwer. Sie stört sich scheinbar daran, dass Frau A. ein Kopftuch trägt.

Freiwillige vermittelt Fachperson

Durch die Leiterin eines interkulturellen Frauentreffs kommt Frau A. mit einem Arzt in Kontakt, der für sie zu einer wichtigen Schlüsselfigur wird. Der Arzt stellt fest, dass Frau A. psychische Unterstützung benötigt. Er vermittelt ihr unter anderem einen arabisch-sprachigen Psychiater. Diesen besucht sie ab diesem Zeitpunkt regelmässig, was zu einer zunehmenden Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit beiträgt.

Eskalation: Gesundheitliche Probleme

Frau A. wird schwer krank und muss notfallmässig ins Spital. Eine erneute Rückenoperation wird notwendig und verläuft positiv. Während der Nachbetreuung durch den Arzt wird bekannt, dass die Familie das Asyl-Zentrum verlassen kann. Der Arzt ist der Familie behilflich bei der Wohnungssuche.

Interventionen: Freiwilligenunterstützung durch Fachperson

Der Arzt unterstützt Frau A. auch bei administrativen Arbeiten, welche ihr Mühe bereiten. Dabei handelt es sich um das Bezahlen von Rechnungen und ähnliche Aufgaben. Der Aspekt der aufsuchenden Beratung ist für Frau A. und ihre Familie sehr wichtig. Diese Arbeit erbringt der Arzt als Freiwilliger, was die Familie sehr erstaunt, anfänglich etwas irritiert, aber vor allem inspiriert.

Verlauf der Integration: Sprache lernen und soziale Kontakte pflegen

Für Frau A.s Integration ist es entscheidend, die Sprache zu lernen. Die Kontakte zu solidarischen Schweizerinnen unterstützen diesen Prozess. Obwohl Frau A. Muslimin ist, engagiert sie sich als Freiwillige in einer reformierten Kirche. Über diese Kontakte hat sie Zugang zu diversen Gruppierungen und Menschen. Wenn immer möglich, hält sie sich an die Kontakte zu Schweizer_innen, die nach ihrer Meinung die wertvollsten Unterstützerinnen für ihre Integration sind.

Nachdem Frau A. Fuss gefasst hat, ist sie selbst seit vielen Jahren als freiwillige Mitarbeiterin im Frauentreffpunkt tätig. In den Deutschkursen vermittelt sie den Teilnehmerinnen das, was nach ihrer Meinung das Wichtigste ist – die Sprache. So gibt sie das weiter, was sie erhalten hat. Auf diese Weise funktioniert sowohl die Multiplikation als auch die Integration.

Kommentare, Handlungsoptionen und weiterführende Hinweise

Strukturelle hindernde Faktoren: Negativer Asylentscheid mit Wegweisungsverfügung

Viele Asylsuchende erhalten einen F-Ausweis. Sie werden wegen der hohen Anforderungen an den Nachweis individueller Verfolgung nicht als Flüchtlinge anerkannt. Dabei erhalten sie keinen alternativen Status, sondern einen negativen Asylentscheid mit einer Wegweisungsverfügung. Letztere kann jedoch nicht vollzogen werden und stattdessen wird eine vorläufige Aufnahme angeordnet.

Die Bezeichnung der Aufnahme als «vorläufig» ist irreführend und suggeriert einen nur vorübergehenden Aufenthalt. Der vermeintlich nur vorläufige Aufenthalt hält potenzielle Arbeitgeber davon ab, vorläufig Aufgenommene einzustellen. Damit ist ihre Arbeitsmarktintegration massgeblich erschwert. Gleichzeitig haben sie nur Anspruch auf Asylsozialhilfe, deren Ansätze deutlich tiefer liegen als bei der regulären Sozialhilfe (Quelle: Schweizerische Flüchtlingshilfe).

Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte haben eingeschränkte Chancen beim Zugang zu Unterstützung und beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Gründe betreffen vor allem sprachliche Barrieren (z.B. fehlende Übersetzung). Daneben aber auch, dass spezifische Angebote fehlen, dass sie zum gesetzlichen Minimum versichert sind oder dass sie ein abweichendes Gesundheitsverständnis haben. Das führt dazu, dass Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte die bestehenden Angebote u.U. nicht finden bzw. wahrnehmen.

Weiterführende Hinweise:

Erklärungen zum F-Ausweis, vorläufige Aufnahme:

https://www.fluechtlingshilfe.ch/themen/asyl-in-der-schweiz/aufenthaltsstatus/die-vorlaeufige-aufnahme

Migrations- und Gesundheitsinformationen: https://www.migesplus.ch/

Spitäler schaffen Zugang zur Gesundheitsversorgung für die Migrationsbevölkerung:

https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/gesundheitliche-chancengleichheit/chancengleichheit-in-der-gesundheitsversorgung/swiss-hospitals-for-equity.html

https://gesundheitsfoerderung.ch/themen/strukturelle-massnahmen-zur-foerderung-der-psychischen-gesundheit-von-fluechtenden

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Hindernde Faktoren: Unwissen um Unterstützungsangebote; besondere Exposition gegenüber (Mikro-) Rassismus

Asylsuchende erleben aufgrund der Flucht und im Exil grosse Verunsicherung. Sie kennen oft weder ihre Möglichkeiten noch Unterstützungsangebote.

Zudem erleben sie oftmals verschiedene Formen der Diskriminierung und kämpfen mit administrativen Hürden aufgrund der gesetzlichen Lage. Sie sind oftmals (Mikro-)Rassismus ausgesetzt. Viele zugewanderte Menschen reflektieren oder kritisieren diese Erlebnisse nicht, was an sich eine grosse Anpassungsleistung verlangt.

Gleichzeitig erfahren Geflüchtete auch Solidarität von Freiwilligen und, wie hier, von Fachleuten, die sich zusätzlich freiwillig für Geflüchtete einsetzen. Damit federn Privatpersonen gesetzliche Härten ab.

Weiterführende Hinweise:

Weiterführende Informationen auf der Website der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht: https://beobachtungsstelle.ch/de/hauptmenu/aktuell/

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Fördernd: Unterstützung in der Herkunftssprache 

Die Erfahrung des SRK und anderer Expert_innen zeigt, dass es älteren Menschen mit Migrationshintergrund leichter fällt, professionelle Unterstützung von Fachpersonen mit Migrationshintergrund (z.B. Spitex) anzunehmen. Hier gibt es weniger Berührungsängste und eine höhere Akzeptanz. Dabei spielt auch die Möglichkeit zur Kommunikation in der Muttersprache eine wichtige Rolle.

Weiterführende Hinweise:

geben-annehmen.ch: Wie lässt sich die Annahme von Unterstützung im Alter fördern? Eine Analyse für die Zielgruppen der älteren Menschen und betreuenden Angehörigen.

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Fördernd: Adressat_innengerechte Beratung fördert die Annahme von Unterstützung

Eine adressat_innengerechte und bedürfnisorientierte Beratung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Unterstützung angenommen wird und Wirkung entfaltet. Eine bedürfnisorientierte Beratung ist z.B. in der Herkunftssprache und gleichzeitig aufsuchend. Sie findet oft in Zusammenarbeit mit Migrant_innen-Selbstorganisationen (z.B. eigene Vereine, religiöse Institutionen wie Moscheen, Tempel) statt.

Weiterführende Hinweise:

https://gesundheitsfoerderung.ch/ueber-uns/medien/news/artikel/gesundheitsfoerderung-mit-der-aelteren-migrationsbevoelkerung-mehr-erreichen.html

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Lehrreicher Moment: Annahme von Unterstützung führt zum Weitergeben von Unterstützung

Bei Verläufen, die zur Selbstwirksamkeit führen, wird die Möglichkeit des Weitergebens von Unterstützung im Sinn einer Gegenseitigkeit möglich. In einzelnen Lebensphasen nimmt man mehr oder weniger Unterstützung an. Im vorschreitenden Verlauf kann man dann selbst Unterstützung weitergeben (= das Prinzip der Generativität).

Weiterführende Hinweise:

Die acht Stufen der Entwicklung nach Erik Erikson: https://www.youtube.com/watch?v=7nCCsB6BAHk

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