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Ausgangslage
Das Ehepaar ist seit vielen Jahren verheiratet und lebt in der Agglomeration einer grösseren Stadt in der Deutschschweiz. Beide geniessen den Ruhestand. Herr B. war in seinem Berufsleben in der Verwaltung tätig. Deshalb kümmert er sich um alle Büroangelegenheiten, welche in ihrem Haushalt anfallen. Frau B. dagegen war zeitlebens als Hausfrau tätig und umsorgt ihren Ehemann. Zu den zwei Kindern aus der ersten Ehe von Herrn B. besteht keine gute Beziehung. Dementsprechend ist deren Kontakt zum Vater eher sporadisch und distanziert. Eine wichtige Bezugsperson für Frau B. ist ihre Schwester.
Ereignis: Das Auto nicht mehr gefunden
Frau B. ist zunehmend verunsichert, wie es ihrem Mann geht. Er stellt eigenartige Fragen, bei denen ihr nicht klar ist, ob es sich um einen Scherz handelt oder ob er es ernst meint. Anfänglich ist Frau B. nicht beunruhigt über die einzelnen Situationen, stellt aber fest, dass sie öfter auftreten. Sein Orientierungssinn nimmt zunehmend ab. Beim Autofahren kennt er immer öfter den Weg nicht mehr. Die Lage spitzt sich zu als Herr B. nach Hause kommt und berichtet, er hätte das Auto in der Stadt nicht mehr gefunden. Da wird Frau B. klar, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmt.
Herr B. entzieht sich den von seiner Frau gewünschten Gesprächen zu der vorgefallenen Situation. Mit Ausreden und fadenscheinigen Begründungen, er müsse die Steuererklärung ausfüllen, zieht er sich vermehrt in sein Büro zurück. Zu den Mahlzeiten, den gemeinsamen Spaziergängen oder dem abendlichen Fernsehschauen ist er zugänglich, will aber nicht über die Vorfälle sprechen. Das Büro ist die konfrontationsfreie Zone und ermöglicht den Rückzug. Er schiebt anstehende Arbeiten vor, die er aber nicht erledigt. Beispielsweise führt er Zahlungen nicht aus, was zu Mahnungen führt und die Steuererklärung reicht er nicht ein.
Interventionen: Arzttermin und Beratung Pro Senectute
Als Herr B. das Auto nicht mehr finden kann, ist das der Auslöser, den Hausarzt zu kontaktierten. Dieser führt umfangreiche Tests durch und stellt die Diagnose «Demenz».
Frau B. hat bereits seit längerer Zeit Kontakt mit der Pro Senectute. Ihre Schwester begleitet sie oft bei den Besuchen, was eine grosse Hilfe ist. Die verständnisvolle Art und das Angebot der Unterstützung helfen ihr sehr. Das Angebot der Pro Senectute umfasst einerseits die Begleitung von Frau B. mittels Gesprächen. Andererseits übernehmen die Mitarbeitenden alle liegengebliebenen administrativen Arbeiten wie Steuererklärung, Zahlungen usw.
Eskalation: Es wird zu viel für Frau B.
Die Gesamtsituation ist sehr beschwerlich für Frau B. Die Gemeinsamkeit mit ihrem Mann ist verschwunden. Sie ist überlastet und läuft am Limit. Die Tatsache, dass es für den Ehemann selbstverständlich ist, dass alles erledigt wird und sie für ihn schaut, belastet sie immer stärker. Ihr Umfeld erwartet von ihr, dass sie Verständnis für seine Krankheit aufbringt. Sie kann das zwar nachvollziehen, kommt aber emotional immer stärker unter Druck.
Massnahme: Entlastung für die betreuende Ehefrau
Der Hausarzt schafft Entlastung für Frau B., indem er dafür sorgt, dass Herr B. einmal pro Woche eine Tagesstätte besuchen kann. Bei Frau B. löst es anfänglich viel Scham- und Schuldgefühle aus, wenn sie ihren Mann zur Tagesklinik bringt. Sie will ihn doch nicht weggeben oder abschieben: «Was denken denn die anderen über mich?»
Mit der Zeit fühlt sie sich erleichtert über den neuen Freiraum an dem einen Wochentag. Oftmals fehlt ihr ihr Mann schon Anfang Nachmittag und sie freut sich, ihn am Abend abzuholen. Einmal pro Woche trifft sich Herr B. zudem mit seinen alten Freunden zum Jassen, was ihn glücklich und zufrieden macht.
Eskalation: Fortschreitende Demenz
Die beiden Kinder, die wenig Kontakt mit dem Vater haben, melden sich und bestärken sie mit dem Vorschlag, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Denn Frau B. fällt es leichter, sich um andere zu kümmern als um sich selbst. Regelmässige Treffen in einer Selbsthilfegruppe helfen ihr, ihre eigene Betroffenheit durch seine Demenz zu verstehen und einzuordnen. Auch die Informationen, welche beim Hausarzt aufliegen, oder TV-Sendungen sind hilfreich. Sie bereiten sie darauf vor, was alles noch auf sie zukommen kann.
Wenn sie zurückblickt, war alles äusserst belastend für sie. «Schritt für Schritt bin ich gegangen, alt geworden. Aber ich bin an den Herausforderungen gewachsen.»
Sie musste den Teil der Verantwortung im Alltag übernehmen, der jahrelang ihrem Mann zugeordnet war. Zudem musste sie einen Weg finden, um mit der Persönlichkeitsveränderung ihres Mannes umzugehen. Das ist ihr gelungen, dank der vielfältigen Unterstützung, die sie erhalten hat. Nebst dem Hausarzt und den Organisationen in diesem Bereich spielten ihre Freundinnen und ihre Schwester eine wichtige Rolle. Eine weitere grosse Hilfe war ihr Hund – der kleine Vierbeiner an ihrer Seite.
Kommentare, Handlungsoptionen und weiterführende Hinweise
Lehrreicher Moment: Rückzug und Ausreden als Bewältigung von alters- und krankheitsbedingten Einschränkungen
Die Zeit der Unsicherheit und der ersten Symptome von Demenz ist sehr anspruchsvoll und verunsichernd. Bis der Bezugsperson klar wird, dass sie etwas unternehmen muss, vergeht oft einige Zeit.
Erste Symptome von Demenz sind:
- Vergesslichkeit (insbesondere das Kurzzeitgedächtnis nimmt ab)
- Schwierigkeiten, komplexe Sätze zu verstehen
- Schwierigkeiten, komplexe Handlungen zu planen und umzusetzen
- Schwierigkeiten, Sachen gleichzeitig zu machen (z.B. Sprechen und Gehen)
- vermehrte Parkschäden
- Entscheidungsschwäche und die Unfähigkeit, Aktivitäten umzusetzen
- Impuls- und Emotionskontrolle
- Wortfindungsstörungen
Diese Probleme werden von den Betroffenen zwar anfänglich wahrgenommen und führen zu emotionaler Belastung, doch kommt es bei der Bewältigung dieser emotionalen Belastung zur Dissimulation oder gar Verleugnung der kognitiven Schwierigkeiten. Dies kann mit Rückzug oder Resignation einhergehen. Die Schuldzuweisung an andere («Man hat es mir gestohlen.», «Jemand anderes hat es verlegt.») kommt ebenfalls häufig vor. Diese Bewältigungsmechanismen sind wenig hilfreich und stellen ein Hindernis für eine gezielte Abklärung oder die Annahme von Hilfe dar.
Weiterführende Hinweise:
https://www.prosenectute.ch/de/ratgeber/gesundheit/krankheiten/demenz-alzheimer-vergesslichkeit.html
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Lehrreicher Moment: Eine differenzierte Demenzabklärung ist nötig
Das frühzeitige Erkennen einer Demenz durch eine umfassende Demenzabklärung wäre wichtig, um eine angemessene Betreuung sowie die gezielte Begleitung der Bezugspersonen und betreuenden Angehörigen einzuleiten. Im Anfangsstadium kann eine Patienten- und Vorsorgeverfügung verfasst werden, die für die Betreuenden Leitlinien setzt.
Weiterführende Hinweise:
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Lehrreicher Moment: Die Erwartungen der älteren Person sowie des Umfeldes belasten betreuende Angehörige
Die Realität der zunehmenden Gebrechlichkeit bei ihrem Mann und bei Frau B. selbst ist an sich schon belastend. Dazu kommen die Erwartungen des Mannes, dass sie ihn betreut und versorgt. Ihr Umfeld hält es für selbstverständlich, dass sie diese Verantwortung übernimmt und gleichzeitig Verständnis für den Ehemann zeigt. Diese Annahme stellt eine weitere Last dar. Zudem muss sie die Aufgaben übernehmen, die bisher der Ehemann erledigt hatte (z.B. Administration, Einzahlungen, Autofahren). Sie fühlt sich zunehmend emotional allein gelassen. Daneben vermisst sie ihren Mann, wie er vorher war. Das alles macht Frau B. traurig.
Weiterführende Hinweise:
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Lehrreicher Moment: Hinderlich für die Annahme von Unterstützung: Scham
Scham wird bei den Betroffenen und Angehörigen ausgelöst, wenn Idealvorstellungen (personale Scham), Moralvorschriften oder Normen (soziale Scham) verletzt werden. Idealvorstellungen können die Vorstellung beinhalten, selbst mit dem eigenen Leben zurecht zu kommen oder einer nahestehenden Person nach Kräften beistehen zu können.
Die Scham weist darauf hin, dass man diesen Idealvorstellungen nicht mehr nachkommen kann und dementsprechend Anpassungen oder Unterstützung erforderlich sind. Anschliessend kann auf die Scham Abwehr folgen, was zur Ablehnung von Anpassung und Unterstützung führt. Zusätzlich verhalten sich Personen manchmal unkooperativ und aggressiv oder ziehen sich zurück.
Soziale Schamgefühle bilden sich umso stärker, je mehr das Selbstbild einer Person unbewusst oder vorbewusst von kulturellen oder familiären Normen geprägt ist, die für die alltäglichen Erfordernisse hinderlich sind. In der konstruktiven Verarbeitung wird es darum gehen, diese Normen zu revidieren.
Information zu Unterstützungsangeboten wie Tageskliniken oder Selbsthilfegruppen sind wichtig. Sensibilisierung kann dazu beitragen, Schuldgefühle bei Angehörigen abzubauen.
Weiterführende Hinweise:
Hell, Daniel (2018): Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen. Giessen: Psychosozial-Verlag
Broschüre mit Praxistipps für den Pflegealltag zum Thema «Scham»: https://www.zqp.de/produkt/ratgeber-scham/