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Ausgangslage
Herr H. ist 75-jährig, Ehemann und Vater einer Tochter. Ausserdem ist er deutscher und schweizerischer Doppelbürger. Zur Zeit des Interviews befindet er sich nach mehreren Operationen in einem geschwächten gesundheitlichen Zustand. Jedoch besitzt er eine positive Lebenseinstellung und war immer sehr sportlich. Er orientiert sich dabei an seinen Verwandten, die 93 und 96 Jahre alt und insgesamt «jung geblieben» sind. Zeitlebens war er ein passionierter Velofahrer, dank seinem Schwager, einem bekannten Spitzensportler. Somit befand er sich immer in einem guten körperlichen Gleichgewicht und konnte auf eine gute Muskelkraft zurückgreifen. Seine Muskeln sind aber durch mehrere Operationen wiederholt stark geschwunden und es bedingt nun viel Training, sie wieder aufzubauen – sofern dies überhaupt noch möglich ist.
Kritisches Lebensereignis: Oberschenkelhalsbruch
Am Anfang stand ein Sturz, bei welchem sich Herr H. einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte. Drei aufeinander folgende Operationen waren in der Folge nötig. Bei der letzten Operation wurde Herrn H. ein künstliches Hüftgelenk implantiert. In der Reha war er damit konfrontiert, auf Unterstützung angewiesen zu sein. Er benötigte einen Rollstuhl, und nichts ging mehr ohne professionelle Hilfe. Nach einer Phase der Besserung musste Herr H. erneut Rückschläge in Kauf nehmen. Eine weitere Operation wurde fällig und er musste beim Aufbau seiner Mobilität und der Selbständigkeit bei der Körperpflege erneut von vorne beginnen. Dank Physiotherapie konnte er sich wieder stabilisieren. Herr H. ist nun nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen, aber er benötigt für die Mobilisation die Krücken.
Fördernde Faktoren: Positive Lebenseinstellung und Selbstdisziplin, unterstützendes soziales Umfeld
Zum Zeitpunkt des Interviews geht Herr H. noch an Krücken und überwindet täglich freiwillig 54 Treppenstufen, bis er seine Wohnung erreicht. Dies gehöre zu seinem täglichen Training zu Hause. Er beschreibt es als seinen Anteil an der physiotherapeutischen Intervention. Dazu gehört auch, nach draussen zu gehen, kleine Besorgungen zu tätigen oder Arzttermine wahrzunehmen. Es sind Herausforderungen, welche Herr H. auf seinem Weg bewältigt, um das Ziel zu erreichen, welches er sich selbst gesteckt hat: Normal und schmerzfrei gehen zu können. Es ist manchmal beschwerlich, aber er ist fest entschlossen, sein Ziel zu erreichen. Als nächstes Ziel hat er sich gesetzt, die Krücken durch Nordic Walking Stöcke zu ersetzen.
Sehr hilfreich war die Unterstützung seiner Tochter und seiner Ehefrau. Sie geben ihm Kraft. Auch wenn die beiden ihn manchmal ärgern. Vor allem die Tochter, weil sie sehr streng mit ihm ist. Aber es gibt ihm ein gutes Gefühl, dass sich die beiden Frauen um ihn kümmern.
Angesprochen auf die Annahme von Unterstützung zeigt sich, dass er keinen Widerstand hat, diese für sich in Anspruch zu nehmen. Diese Einstellung geht aus seiner Einsicht hervor, keine andere Wahl zu haben.
Einschränkungen
Als einzigen Mangel erwähnt er eine «psychische Einschränkung», die er auf das schlechte Gewissen gegenüber seiner Frau zurückzuführt. Er könne ihre Wünsche an ihn nicht mehr vollumfänglich erfüllen. Zum Beispiel, gemeinsame Reisen zu unternehmen. Umgekehrt fällt es Frau H. nicht leicht, allein zu reisen. Das ist nur möglich, wenn sie weiss, dass ihr Mann in guten Händen ist. Beide hoffen, dass es in naher Zukunft möglich sein wird, ihre gemeinsamen Reiseziele wieder zusammen zu realisieren. Zurzeit scheinen sie in weiter Ferne zu liegen.
Angewiesen auf Pflege
Herr H. ist nicht in der Lage, selbstständig zu duschen. Dafür braucht er morgens um 8.00 Uhr die Unterstützung der Pflege-Spitex, die ihn wäscht und seine offenen Wunden versorgt. Er bewundert die Frauen und Männer, die bei ihm ein- und ausgehen. Aber vor allem ist er ihnen dankbar für ihre Unterstützung.
Herr H. hat kein ausgeprägtes Schamgefühl in Bezug auf körperliche Intimität. Er merkt an, dass er kein Problem mit der Scham hat, auch wenn er nackt in der Badewanne sitzt. Das resultiere wahrscheinlich aus seiner Sozialisierung in der ehemaligen DDR mit einer expliziten Freikörperkultur.
Durch einen Tumor leidet er zudem an einer Blasenentleerungsschwäche. Auf Anraten der Ärzte hat er sich ein Ritual angewöhnt, indem er vor dem Zubettgehen mit einem Einweg-Blasenkatheter seine Blase entleert und somit rasch ein- und durchschlafen kann. Dazu musste er über seinen Schatten springen. Das Vorgehen entlastet ihn jedoch sehr und gibt ihm die Sicherheit, dass während der Nacht nichts passieren kann.
Herr H. macht sich immer wieder Gedanken darüber, was ihm guttut. Frau H. ist eine vorzügliche Köchin. Häufig, aber erst nach einem bestimmten Ritual («Echo der Zeit» im Radio hören), gibt es ein feines Nachtessen. Das ist für ihn eine wichtige Ressource. Herr H. ist zutiefst dankbar für die Unterstützung der Frauen und Männer, die ihm in dieser schweren Zeit geholfen haben. Die Erfahrung, dass sowohl nahestehende als auch externe Pflegende Sorge tragen, bringen ihn zur Erkenntnis, dass die Annahme von Unterstützung auch ein gutes Gefühl geben kann.
Kommentare, Handlungsoptionen und weiterführende Hinweise
Lehrreicher Moment: Hohe Selbstwirksamkeitserwartung
Eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung und die subjektive Überzeugung, gewünschte Handlungen aufgrund eigener Kompetenzen erfolgreich bewältigen zu können, führen zu Selbstdisziplin und stärken die Selbstheilungskräfte.
Weiterführende Hinweise
Blaser, Martina & Fabienne T. Amstad (Hrsg.) (2016): Psychische Gesundheit über die Lebensspanne. Grundlagenbericht. Bern und Lausanne: Gesundheitsförderung Schweiz Bericht 6 [online] https://gesundheitsfoerderung.ch/assets/public/documents/de/5-grundlagen/publikationen/psychische-gesundheit/berichte/Bericht_006_GFCH_2016-04_-_Psychische_Gesundheit_ueber_die_Lebensspanne.pdf
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Lehrreicher Moment: Die Veränderungen müssen verarbeitet werden
Das Altern verändert die Muskelkraft, aber auch das Denken und Handeln, den Antrieb und das Interesse sowie die Libido. Es kann mit Schwerhörigkeit, allgemeiner Verlangsamung, Gedächtnisschwäche, Verlust der Selbständigkeit und mit zunehmender Abhängigkeit von Dritten assoziiert sein. Diese Veränderungen der Person müssen verarbeitet werden.
Es gelingt u.U. schlechter, den Wünschen und Erwartungen von nahestehenden Angehörigen zu entsprechen. Das kann die Vorstellung über sich selbst gefährden und Scham auslösen. Auch die Angehörigen müssen sich damit auseinandersetzen, dass früher Selbstverständliches (die Zahlungen erledigen, Autofahren, eine gemeinsame Wanderung, der Jassabend, etc.) von den Betroffenen nicht mehr oder zumindest vorübergehend nicht mehr geleistet werden kann.
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Lehrreicher Moment: Das Schamempfinden ist von der sozialen Herkunft geprägt
Körperliche Intimität und damit verbundene Schamgefühle können kulturell, bzw. durch die Sozialisierung beeinflusst sein (hier: Sozialisierung in der ehemaligen DDR mit einer expliziten Freikörperkultur).
Personale Scham fördert Verantwortung und Eigenständigkeit. Gleichzeitig schützt sie die Identität und das Private. Sie ist ein wesentlicher Faktor für das selbstbestimmte Annehmen von Hilfe und Unterstützung. Herr H. schämt sich mehr für seine Unselbständigkeit und Abhängigkeit als für seine Nacktheit. Diese (personale) Scham konnte er konstruktiv verarbeiten, so dass er Unterstützung annehmen kann, auf seinem Weg zu mehr Selbständigkeit.
Handlungsoption: Es ist wichtig, eigene Erwartungen, Stereotypen oder Interpretationen der Befindlichkeit oder des Verhaltes von betreuten Menschen zu überprüfen und eigene Bilder und Annahmen aufmerksam zu reflektieren.
Weiterführende Hinweise
Hell, Daniel (2018): Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen. Giessen: Psychosozial-Verlag
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Lehrreicher Moment: Sich überwinden und Unterstützung annehmen
Herr H. nimmt Unterstützung gern an. Aus Einsicht und, weil er sich erhofft, dadurch mittelfristig mehr Selbständigkeit zu erlangen. Er ist stark kognitiv geprägt, was ihm hilft, die Annahme von Unterstützung als Teil der Problemlösung zu sehen. Die mit der Annahme der Unterstützung verminderte Selbständigkeit betrachtet er als vorübergehend. Er engagiert sich mit seiner aktiven Teilnahme an den Massnahmen, diese Zeit möglichst kurz zu halten. Was die Annahme der Unterstützung in diesem Fall erleichtert ist, dass Herr H. davon ausgeht, dass es «nur» vorübergehend ist.
Fördernde Faktoren sind seine guten mentalen Voraussetzungen und seine Resilienz. Dazu kommt seine Offenheit bezüglich der körperlichen Intimität.
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Fördernd: Positive Deutung der Unterstützung wirkt stärkend
Eine positive Deutung (Wertschätzung) der Unterstützung und der Unterstützer ermöglicht es Herrn H., Hilfe anzunehmen. Gleichzeitig gibt sie ihm ein gutes Gefühl. Eine positive Haltung/Einstellung wirkt sich positiv auf den Krankheitsverlauf bzw. die Rehabilitation aus. Positives (Um-)Deuten ist zudem eine wirksame Bewältigungsstrategie.
Handlungsoption: Die Unterstützung von erfolgreichen Bewältigungsstrategien kann auch in anderen Fällen gefördert werden.